Kapitel 8
wo die mümmlein leben
Am nächsten Morgen lies Santi Gengenbach, wo er die Nacht verbracht hatte, hinter sich und flog nordwärts in den Schwarzwald hinein. Er war auf dem Weg in dessen Nationalpark, denn wenn ein Gebiet als Nationalpark geschützt war, dann musste die Landschaft dort auch außergewöhnlich sein, vermutete Santi. Um auch ein bisschen über diese lernen zu können, flog er zuallererst das dortige Nationalparkzentrum an. Als Santi dieses erreichte, wusste er auch sofort, dass er an seinem Ziel angekommen war. Denn nur ein Haus, dass sich der Natur widmete, konnte sich so in diese einfügen, wie es das Nationalparkzentrum tat. Die langen, übereinanderliegen Gebäudeteile erinnerten an Totholzstämme in Wäldern und spiegelten so das Thema des Zentrums – die Natur, den Naturschutz und die Waldentwicklung – wieder. Durch die Architektur des Gebäudes schien es außerdem so, als hätten möglichst wenig Bäume für dieses weichen müssen. Stattdessen hatte man das Nationalparkzentrum um den Wald herum entworfen. Begeistert von der Rücksicht auf die Natur betrat Santi das Zentrum durch den Haupteingang. Auch hier bewirkte die Bauweise, dass man sich, trotz dessen man sich im inneren eines Hauses befand, fühlte wie inmitten des Schwarzwaldes. Durch große Glasfronten verschwamm die Grenze zur Natur und die offenen Räume vermittelten ein Gefühl der Weitläufigkeit. Überhaupt war die Atmosphäre außergewöhnlich friedlich durch das weiche Licht, das auf die hölzerne Innenausstattung fiel, und die angenehme Ruhe.
Mit diesem wohligen Gefühl streifte Santi durch die einzelnen Abteilungen des Nationalparkzentrums. In der Ausstellung lernte er allerhand Neues über den Schwarzwald, lies sich im Kino Aspekte des Naturschutzes anschaulich erklären und tankte im Ruheraum innere Kraft. Das Highlight hatte er sich allerdings bis zum Schluss aufgehoben – die Brücke der Wildnis. Am Rande des Gebäudes öffnete sich das Nationalparkzentrum entgegen dem Schwarzwald und Santi betrat einen Skywalk, der ihn über dem Wald schweben ließ. Für ihn war das aufgrund seiner Flugmöglichkeit nichts neues, aber für Menschen musste es ein ganz neues Gefühl sein. Santi ging die Brücke entlang bis zu ihrem Ende. Von hier aus hatte er einen atemberaubenden Blick über den umliegenden Wald und hinab ins Tal. Eine Weile lies Santi sich die Sonne ins Gesicht scheinen und genoss die frische Luft um ihn herum, bevor er schließlich beschloss, seine Reise fortzusetzte.
Von der Brücke der Wildnis aus flog er entlang der Schwarzwaldhochstraße durch den Nordschwarzwald. Als sich die Straße um eine weitere Kurve gewunden hatte, tauchten vor Santi einige Häuser auf. Neugierig darüber, um was für eine Ansammlung es sich handelte, verringerte Santi seine Flughöhe und kurvte um die Häuser herum. Hinter diesen lag ein kleiner, relativ runder See inmitten der hohen Tannen. Weil Santi in diesem Moment damit beschäftigt war, den See und seine Umgebung zu betrachten, bemerkte er nicht, wie genau auf seiner Höhe ein Schwarm Vögel auf ihn zugeflogen kam. Im letzten Moment machten ihn die wilden Flügelschläge seines Gegenverkehrs darauf aufmerksam. Ruckartig trat Santi einen Sinkflug an, aber da er bereits nicht mehr all zu hoch gewesen war, kam der Boden schneller als gedacht näher. Blitzartig beschloss Santi, dass der See wohl das kleinere Übel als der harte Waldboden war, und schon im nächsten Augenblick teilte Santi die harte Oberfläche des Sees und verschwand unter Wasser.
Als er seine Augen wieder öffnete befand er sich noch immer unter Wasser, doch trotzdem sah er alles ganz klar. Vor ihm am Grund des Sees lag ein prächtiges Schloss, dessen Fassade vor Kristallen strahlte. Umgeben wurde das Schloss von prachtvollen Gärten, in denen schneeweiße Seerosen und blutrote Korallen wuchsen. In den Gärten und um das Schloss herum schwammen kleine Nixen in bunten, glitzernden Gewändern und mit langem wallenden Haar. Die alles umgebende Ruhe und der Frieden umgaben auch Santi, während er die Szenerie beobachtete. Doch plötzlich wurde das Wasser um ihn herum aufgewirbelt, das Schloss und die Nixen vor ihm verschwanden und das Wasser wurde trüb. Eine unsichtbare Kraft drückte ihn von unten nach oben und schließlich kam Santi zu sich und strampelte selbst an die Wasseroberfläche. Als er schließlich aus dieser herausbracht, schnappte er nach Luft. Doch er war noch immer eingenommen von der Lebenswelt am Grund des Sees, sodass er erneut einen Stoß versetzt bekam, der ihm signalisierte, dass er zum Ufer schwimmen sollte. Als er dieses erreicht hatte und sich tropfnass auf den Boden fallen ließ, bemerkte er erst, dass es sich keinesfalls um eine unsichtbare Kraft gehandelt hatte, die ihn an die Oberfläche des Sees geführt hatte, sondern um drei kleine Molche, die im seichten Wasser des Sees warteten und Santi besorgt betrachten.
»Geht es dir gut? Du warst wohl einen Moment ohnmächtig, als du in unseren Mummelsee geplumpst bist. Da dachten wir, wir bringen dich mal lieber wieder an die Luft, nicht dass du hier noch ertrinkst«, erklärte der größte der drei Molche.
Doch Santi hatte kein Ohr für seine Schilderung der Ereignisse. Vielmehr interessierte ihn das, was er eben unter Wasser gesehen hatte.
»Kennt ihr das Schloss im See? Und die Nixen?«, platze es aus ihm heraus.
Verwirrt sahen sich die Molche gegenseitig an.
»Von was für einem Schloss sprichst du?«, fragte schließlich der kleinste Molch.
»Na das Schloss da unten«, sagte Santi, während er auf den See deutete. »Das Schloss, in dem die Nixen leben.«
Die Molche sahen Santi nun noch eine Spur besorgter an und der größte Molch antwortete:
»Hier im See gibt es kein Schloss. Und die einzige Nixe, die hier lebt, ist aus Stein und steht da drüben am Ufer.«
Damit deutete der Molch auf die Figur einer Nixe, die nahe dem Ufer in Wasser stand.
»Vielleicht war der Aufprall ein bisschen hart und du hast von dem Schloss und den Nixen in der Ohnmacht geträumt.«
Santi war kein Träumer, er wusste, dass die Erklärung des Molchs Sinn machte, aber er war sich so sicher gewesen, dass das, was er gesehen hatte, echt gewesen war.
»Aber wie komme ich denn dann auf Nixen und das Schloss?«, fragte Santi verwirrt.
Der kleinste Molche zucke mit den Schultern, während er vermutete:
»Vielleicht hast du ja die Statue kurz vor deinem Aufprall gesehen. Oder aber du hast schon von der Sage um die Nixen vom Mummelsee gehört und die hat dir dein Unterbewusstsein dann präsentiert, als du ohnmächtig warst.«
»Was für eine Sage?«, fragte Santi interessiert. Er hatte noch von keinen Nixen gehört, aber seit seiner Märchenstunde mit Clio war er begeistert von den Sagen und Märchen des Schwarzwalds.
»Die von den Nixen, die hier im See leben sollen. Ich kann dir aber sagen, mir ist noch keine begegnet«, antwortete der größte der drei Molche.
»Ja, weil sie vor unserer Zeit hier gelebt haben«, warf der kleinste Molch ein.
Skeptisch blickte der große den kleinen Molch an.
»Na ich weiß ja nicht, ob man der Sage glauben kann.«
»Welche Sage denn?«, fragte Santi erneut mit Nachdruck.
Der kleinste Molch sah ihn nun direkt an.
»Man erzählt sich, dass die Nixen, die hier einst gelebt haben, an kalten Winterabenden aus dem See gestiegen sind, um den Schwarzwälder Bauern die langen dunklen Abende zu vertreiben. Pünktlich um Mitternacht mussten sie allerdings wieder im Wasser sein, darauf legte der strenge Nixenkönig großen Wert. Als sich aber ein junger Bauer von Deckerhof hier im Tal unsterblich in eine der Nixen verliebte, überlegte er sich eine List, um mehr Zeit mit ihr verbringen zu können. So verstellte er heimlich die Uhren, um sie länger bei sich haben zu können. Als die Nixe dann unverschuldet zu spät zu Hause ankam, war der Nixenkönig unheimlich böse und es folgte so ein großes Donnerwetter, dass der See aufgewühlt war und die Wellen peitschten. Auch am nächsten Tag konnte man noch die Schaumkronen vom nächtlichen Unwetter auf dem See schwimmen sehen und neben ihnen schwammen auch drei rote Blutlachen am Rande des Sees.“
Der kleine Molch machte eine kurze bedeutungsvolle Pause, bevor er seine Geschichte abschloss:
»Seither wurden die Nixen nie wieder gesehen.«
Santi hatte den Worten des kleinen Molchs gespannt gelauscht.
»Also sind die Nixen tot?«, fragte er.
»So erzählt man es sich jedenfalls«, erwiderte der große Molch, der der Sage skeptisch gegenüberzustehen schien.
»Und weiß man was aus dem Bauern geworden ist, der den Tod seiner Geliebten verschuldet hat?«, fragte Santi weiter.
Der dritte Molch schüttelte den Kopf.
»Du hast die ganze Geschichte gehört. Aber den Hof gibt es auch heute noch.«
Durch sein Erlebnis unter Wasser hatte Santi sich die Geschichte bildlich vorstellen können. Als der kleine Molch von den Blutlachen gesprochen hatte, hatte er sogar unwillkürlich das Ufer nach diesen abgesucht. Dabei hatte er auch an die blutroten Korallen gedacht, die in den Gärten des Nixenschlossen gewachsen waren.
Wie hatte es sein können das Santi, der von der Sage um den Mummelsee bis vor einigen Minuten noch nie etwas gehört hatte, bei seinem unfreiwilligen Bad im See ausgerechnet von den Nixen und ihrem Schloss geträumt hatte? Santi bekam eine leichte Gänsehaut, als er so darüber nachdachte. Wer konnte schon genau sagen, in was für eine Zeit er da unter Wasser zurückgeblickt hatte. Er jedenfalls war, anders als der große Molch, tief beeindruckt von der Sage.
„Ich glaube, dass die Nixen hier einst gelebt haben“, stellte er schließlich an die drei Molche gewandt fest.
»Du hast dir auch gerade den Kopf gestoßen«, erwiderte der große Molch trocken.
»Ich glaube es auch«, bemerkte stattdessen der kleine Molch.
Der dritte Molch blieb, genau wie schon die ganze Zeit zuvor, stumm.
Nachdem die drei Molche wieder im See verschwunden waren und Santi sich das Gefieder trocken geschüttelt hatte, ging er, bevor er weiterflog, noch zur Nixenstatue hinüber, auf die ihn der Molch zuvor hingewiesen hatte. Die Nixe hier saß mit angezogenem Fischschwanz auf einem Stein im Wasser und blickte über den See. Wäre sie nicht aus Stein, sondern aus Fleisch und Blut, würde sie genau so aussehen, wie die Nixen, die Santi unter Wasser gesehen hatte. Während er sie so eine Weile anblickte, kam er zu der Einsicht, dass er wohl nie genau wissen würde, warum er das Schloss und die Nixen unter Wasser gesehen hatte. Aber er würde es nicht so schnell vergessen.
Die Nixe im Mummelsee
Der Mummelsee
Das Nationalparkzentrum Ruhestein
Die Brücke der Wildnis des Nationalparkzentrums Ruhestein
Begleite Santi zu seiner letzten Station: