Kapitel 5

Die aufwärtsspirale

Als die Sonne sich am nächsten Morgen über den Horizont schob und die ersten Sonnenstrahlen auf Santi fielen, klappte dieser verschlafen seine Augen auf. Er schirmte seine Augen mit dem Flügel gegen die Sonne ab und blinzelte ein paar Mal, während er versuchte sich zu orientieren – seine Träume hatten ihn verwirrt. Denn darin war er ausgestattet mit Taucherbrille und Sauerstoffflasche von einer Skisprungschanze gesprungen, die unter Wasser lag. Dabei waren einige der Schwarzwaldbewohner, die er in den letzten Tagen kennengelernt hatte, jeweils ein Stück mit ihm geflogen und hatten von ihrer Heimat geschwärmt. Bevor Santi in seinem Traum landen konnte, war er jedoch aufgewacht. Da Santi nicht wusste, was der Traum zu bedeuten hatte, verbannte er die Bilder, die er noch im Kopf hatte, aus seinen Gedanken. Denn heute hatte er wieder viel vor – seine Erkundung des Schwarzwalds sollte weitergehen. Deshalb packte Santi seine Siebensachen zusammen und machte sich bereit zum Losfliegen. Nach zwei, drei Flügelschlägen waren auch seine Glieder wach und so stieg er auf, bis er über die Baumwipfel blicken konnte. Und wohin nun? Santi beschloss erst einmal einfach daraufloszufliegen, Richtung Norden, denn den südlichen Schwarzwald hatte er bereits kennengelernt.

       Santi genoss die kühle Morgenluft, durch die er flog und die sein Gefieder zerzauste. Eine Weile flog er so vor sich hin und verlor sich in der Geschwindigkeit und der unter ihm vorbeiziehenden Landschaft. Doch dann erweckte etwas in der Ferne sein Interesse. Denn mitten in der Landschaft, aber doch von dieser losgelöst, stand ein Turm. Santi war noch zu weit weg, um wirklich erkennen zu können, was er da vor sich hatte, aber es war sehr hoch. Doch auch als Santi dem Turm immer näherkam, wurde ihm nicht klarer, was der Turm für eine Funktion hatte. Dieser war hoch und rund, die Außenfassade war jedoch nicht glatt. Stattdessen sah es so aus, als würde sich die graue Masse spiralförmig nach oben winden. Auch besaß der Turm keine Fenster, lediglich am oberen Ende, da wo die Spirale endete, waren einige zu sehen. Was konnte es also sein? Es konnte kein Hochhaus sein, in dem Menschen lebten oder arbeiteten, denn diese hatten immer Fenster, sonst würden die Bewohner ja ohne Tageslicht auskommen müssen. Aber es war wohl auch keine Fabrik oder etwas ähnliches, in dem etwas produziert wurde. Schließlich gab es dafür weitaus geeignetere Formen eines Gebäudes. Vielleicht wurde darin etwas gelagert, wie man es von Wassertürmen kannte, aber auch das schien Santi unwahrscheinlich, denn hätte man den Turm dann nicht etwas niedriger und dafür breiter gebaut? Santi wollte nun unbedingt wissen, was der Turm hier zu suchen hatte und was für eine Funktion er erfüllte. Denn Santi konnte nicht glauben, dass der Turm lediglich zu dekorativen Zwecken hier aufgestellt wurde. Denn so richtig sicher war er sich nicht, ob er den Turm schön fand – er hob sich ein bisschen einsam von der restlichen Landschaft ab. 

       Santi landete am Fuße des Turms auf dem Boden. Als er den Blick nach oben wandte und zur Spitze des Turms sah, wurde ihm dessen Höhe noch einmal ganz anders bewusst als aus der Luft. Von hier unten sah es so aus, als würde der Turm bis zu den Wolken reichen. Santi sah sich nach jemandem um, der ihm seine Fragen beantworten konnte. Doch aufgrund der frühen Uhrzeit war das Gelände wie ausgestorben. Doch dann entdeckte er unweit von sich entfernt auf einer Blume sitzend einen gelben Schmetterling mit braunen Punkten. Vorsichtig näherte sich Santi dem Schmetterling, denn er wusste, dass diese immer sehr schreckhaft waren – besonders bei seiner Art, denn viele Papageien ernährten sich schließlich auch von Insekten. Santi aber nicht, denn er mochte die Samen, Beeren, Früchte und Blüten viel mehr – warum sollte er bei einem so reichhaltigen Angebot der Natur überhaupt daran denken, Insekten zu fressen? Als hätte Santi es geahnt, flatterte der Schmetterling sofort los, als Santi ihm zu nahekam. Verständlich dachte Santi. Schließlich wusste der Schmetterling nichts von Santis Vorlieben.

       »Hey, warte bitte«, rief Santi deshalb. »Ich möchte dich nur etwas fragen.« 

       Doch der Schmetterling flog weiter und setzte sich ein paar Meter entfernt erneut auf eine Blume. Santi folgte ihm, behielt aber einen gewissen Abstand bei. 

       »Bitte! Ich will nichts von dir außer ein paar Antworten«, versuchte Santi den Schmetterling weiterhin zu überzeugen. Dieser sah ihn nun wenigstens an, jedoch mit einem skeptischen Blick.

       »Ich würde gerne wissen, was das hier für ein Turm ist.«

       Einen Moment sah der Schmetterling Santi forschend an, dann antwortete er zögerlich:

       »Ein Testturm.«

       Und mit seiner hohen Stimme setzte der Schmetterling zur Gegenfrage an:

       »Wieso möchtest du das denn wissen?«

       »Weil ich hier zufällig vorbeigekommen bin und so einen Turm noch nie zuvor gesehen habe. Ich war mir zwar sicher, was er nicht war, aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, warum solch ein Turm hier in die Landschaft gebaut wurde. Aber sag mal, was ist denn ein Testturm?«

       Langsam schien der Schmetterling Santi nicht mehr gänzlich zu misstrauen und so flatterte er ein Stück auf ihn zu, während er auf Santis Frage antwortet:

        »Ich kenne auch keinen weiteren solchen Turm. Aber man hat den hier gebaut, um darin Aufzüge zu testen. Die rauschen da drin ständig von oben nach unten und wieder hoch. Schön ist es nicht, aber man muss die halt irgendwo testen…und man hat eine tolle Aussicht von oben.«

       Jetzt wo der Schmetterling etwas näher bei ihm saß, konnte Santi das Muster auf dessen Flügeln besser erkennen. Die orangenen Flügel waren geschmückt mit einem dunklen Muster, das sich am Außenrand wellenförmig entlang zog, worauf dunkle Flecken folgten. So sah der Schmetterling sehr elegant aus, wie er da mit seinem Schmuckflügeln auf der Blume saß. 

       »Du findest den Turm also nicht schön?«, frage Santi nach. Denn er konnte dem Turm durchaus etwas abgewinnen.

       »Du etwa?«, erwiderte der Schmetterling die Frage. »Ich meine, sie haben sich ja schon Mühe gegeben mit der Gestaltung und so, aber er sticht schon sehr hervor in der Region.«

       Santi nickte.

       »Das stimmt. Aber so ist es doch etwas Besonderes, oder? Und andere Länder bauen reihenweise Hochhäuser, die sogar noch viel höher sind. Die werden dann sogar von Touristen bewundert.«

       »Touristen haben wir hier auch. Die fahren mit den Aufzügen nach oben, wenn die gerade nicht getestet werden. Von oben sieht man über Schwarzwald und Baar bis hin zur Schwäbischen Alb.«

       »Fliegst du öfters nach oben?«, fragte Santi den Schmetterling.

       »Ein paar Mal habe ich es schon geschafft. Aber für mich ist das ein viel anstrengenderer Weg als für dich, schließlich sind meine Flügel viel kleiner als deine. Wenn du aber schon hier bist, solltest du dir den Ausblick nicht entgehen lassen. Bei gutem Wetter – und das haben wir heute – ist es einfach klasse«, schwärmte der Schmetterling.

       »Das schau ich mir an«, sagte Santi aufgeregt. »Vielen Dank für den Tipp!«

       »Keine Ursache«, erwiderte der Schmetterling. Damit schien das Gespräch für ihn beendet zu sein und er erhob sich von seiner Blume und flog in sicherer Entfernung zu Santi von Blume zu Blume davon. Santi wendete seinen Blick von ihm ab und blickte den Turm hinauf. Dann wollen wir mal, motivierte er sich selbst, bevor er mit schnellen Flügelschlägen nach oben stieg. Zunächst flog er gerade nach oben, doch dann beschloss er der Fassade des Turms zu folgen und schraubte sich dadurch spiralförmig nach oben. Als er die Aussichtsplattform erreichte, von der der Schmetterling erzählt hatte, musste sich Santi erst einmal setzen – sein Flug hatte ihn etwas schwindlig werden lassen. Als sich die Welt um ihn herum nicht mehr drehte, hob er seinen Blick an und nahm erst da seine Umgebung war. Er musste nun über 200 Meter hoch sein, sagte Santi seine Flugerfahrung – diese Strecke hinter sich zu bringen, hatte sich aber wirklich gelohnt. Der Schmetterling hatte nicht übertrieben! Wohin Santi sich auch drehte, überall blickte er über die grüne Landschaft der Region. Am Horizont erstreckten sich Gebirgsketten, zwischen braunen Feldern lagen kleinere und größere Siedlungen und Wälder und Wiesen sorgten für Abwechslung in der landschaftlichen Farbgebung. Am blauen Himmel zogen weiße Wolken vorüber, die, wenn sie sich für einen kurzen Moment vor die Sonne schoben, sofort die Stimmung der Landschaft veränderten. Bemerkenswert war außerdem die Ruhe hier oben. Da sich, bis auf Santi, niemand auf der Plattform befand, war das Einzige, was zu hören war, der Wind um ihn herum. Alle anderen Geräusche lagen weit unter ihm und hatten den Weg nach oben nicht geschafft.

       Eine Weile genoss Santi die Sonne auf seinem Gefieder und die Ruhe, die ihn umgab. Doch dann bemerkte er nach und nach, wie Leben in den Turm kam. Unter ihm erreichten Menschen den Turm, Maschinen wurden angeworfen, Geräusche waren zu hören – die Arbeit am Testturm begann. Der Zeitpunkt war für Santi allerdings nicht unpassend, denn sein Magen hatte sich gemeldet – es war Zeit für ein Frühstück. 

 

Dieses fand Santi in Rottweil, einem Ort, den er vom Turm aus gesehen hatte und der nur unweit von diesem entfernt lag. Santi hatte sich für eines der Cafés in der Altstadt entschieden und hier ein kleines Frühstück zu sich genommen. Nachdem er gegessen hatte, schlenderte Santi durch die Straßen der Altstadt. Beim Anblick der Fassaden und Bauwerke fühlte sich Santi, als wäre er in einem anderen Jahrhundert angelangt. Denn die historische Innenstadt mit ihren prächtigen Bürgerhäusern, kunstvollen Brunnen, Türmen und Toren versetzten ihn prompt in die Epoche in der Rottweil – wie Santi gelesen hatte – stolze Reichsstadt war. Viele der Wohnhäuser bereicherten mit ihren besonderen Erkern und Fensterformen das Straßenbild der Hauptstraßen, während in den kleinen Gässchen noch immer das 15. Jahrhundert zu sein schien. Doch trotz seines historisch anmutenden Erscheinungsbilds, kam Rottweil Santi keineswegs zurückgeblieben oder erstarrt vor, sondern modern und lebendig. Geschäfte unterschiedlichster Art wechselten sich in den Straßen mit zahlreichen Restaurants und Cafés ab und in den kleinen grünen Gärten und Höfen verweilten Menschen allen Alters. 

       Begeistert von Rottweils Flair sog Santi die Stimmung in sich auf. Auch wenn die Stadt seinem eigentlichen Anspruch an Action und Angebot nicht entsprach, so konnte er sich dem Charme der Stadt nicht entziehen. Hier durchflutete ihn eine Ruhe und Entspannung, die ihn fast dazu verleitete, länger hier bleiben zu wollen. Doch Santi schüttelte den Gedanken ab und machte sich stattdessen auf, um den Schwarzwald weiter zu erkunden – schließlich hielt dieser noch viel zu entdecken bereit. 

Der Thyssenkrupp Testturm

Der Thyssenkrupp Testturm

Die Aussichtsplattform des Thyssenkrupp Testturms

Weiter geht Santis Reise in der Vergangenheit: