Kapitel 3
Das Dorf unter Wasser
Nun war Santis Interesse geweckt und er wollte noch mehr von der Landschaft des Schwarzwaldes sehen. Deshalb kramte er seinen Reiseführer heraus und überflog ihn auf der Suche nach seinem nächsten Ziel. Schon nach ein paar Seiten wurde er fündig, denn das UNESCO-Siegel zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Seit 2017 war der Schwarzwald ein Biosphärenreservat nach deren Definition. „Artenreiche Bergmischwälder im reizvollen Wechsel mit Allmendweiden, sagenhaften Ausblicken bis hin zu den schneebedeckten Gipfeln der Alpen, faszinierende Natur mit Relikten der Eiszeit, teils alpinen Tier- und Pflanzenarten sowie regionalen Spezialitäten und Bräuchen“, las Santi. Auch wenn das sehr vielversprechend klang, schlich sich doch bei den Stichworten ‚regionalen Spezialitäten‘ und ‚Bräuchen‘ wieder die Kuckucksuhr sowie der Bollenhut in Santis Gedanken. Irgendwo mussten ihm diese ja mal begegnen. Dennoch beschloss Santi sich dieses Gebiet einmal hautnah anzuschauen. Und so flog er weiter, bis sich unter ihm die sogenannten Allmendweiden zeigten. Diese stellten sich dar wie ein Naturmosaik – da eine Viehweide, dort eine Wiese und dazwischen ein verwachsener Baum. Wo man auch hinschaute, bot sich dem Auge ein neuer Ausblick.
In der Ferne hörte Santi das Rauschen eines Baches. Zwar war es nur sehr leise, doch Santi war sich sicher, dass der Bach größer als die sein musste, die er bei seinem Flug gesehen hatte. Getrieben von der Neugier folgte Santi dem immer lauter werdenden Rauschen. Doch als er um ein Wäldchen herumgeflogen war, befand er sich nicht wie erwartete an einem reißenden Fluss. Stattdessen stürzte vor ihm Wasser den Berg hinunter – er war zu einem Wasserfall geflogen. Wie er auf einem Holzschild lesen konnte, handelte es sich hierbei um die Todtnauer Wasserfälle.
Über mehrere Stufen fiel das Wasser bestimmt 100 Meter in die Tiefe, kam am Fuße der Klippe zur Ruhe und floss dann als Bach weiter in das Tal. Als er ein wenig näher heranflog, konnte Santi die Feuchtigkeit der Gischt auf seinen Federn spüren, doch das hielt ihn nicht davon ab, den Wasserfall entlang nach oben zu fliegen. Auch von oben war der Blick auf den herabstürzenden Bach eindrucksvoll, besonders weil man so den Weg, den dieser zurücklegte, besser verfolgen konnte. Aber von unten wurde die Wucht, mit der das Wasser sich seinen Weg bahnte, noch deutlicher.
Santis Aufmerksamkeit richtete sich auf eine Gruppe Wanderer, die Stufe um Stufe den Wasserfall erklommen. Santi hatte keine Ahnung, wie viele Stufen es genau waren, aber es waren eine ganze Menge. So ein Pech für die Menschen, dass sie nicht einfach, wie Santi selbst, nach oben fliegen konnten. Stattdessen mussten sie die Anstrengung auf sich nehmen, um den Ausblick genießen zu können – dass es sich auch wirklich lohnte, konnten sie dabei nur hoffen. Aber die Wanderer legten mit Freude die Stufen zurück und wider Santis Erwartung waren sie nicht alt. Eine gewisse Fitness brauchte man wohl auch, um den Aufstieg bewältigen zu können, oder man ließ sich viel Zeit. Kurz bevor die Gruppe den Gipfel und damit seine Position erreichte, breitete Santi die Flügel aus und stürzte sich über die Klippe und hinein in den Flug.
Eine ganze Weile flog Santi ruhig über die grüne Landschaft des Schwarzwaldes, bis sich vor ihm ein großer See auftat. Er hatte nun schon ein paar Seen in der Region gesehen, aber keiner von denen war so groß wie der vor ihm. Deshalb setzte Santi zur Landung an und wenige Augenblicke später saß er auf einer Wiese am Ufer. Als er so über den See blickte, tippte ihm plötzlich von hinten jemand auf die Schulter. Erschrocken über die plötzliche Berührung fuhr Santi herum und blickte in das Gesicht eines Eichhörnchens.
»Huch, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte das Eichhörnchen entschuldigend. »Aber du bist so schön bunt!«
Das Eichhörnchen schien ganz verzückt von Santis farbigem Gefieder. Zu Recht, konnte sich Santi nicht verkneifen zu denken. Aber auch das Eichhörnchen selbst hatte ein schönes rostrotes Fell, wie Santi fand.
»Ich bin Santi«, stellte sich Santi dem Eichhörnchen vor.
»Sandra«, erwiderte dieses. »Was machst du denn hier, Santi? Einen Papagei habe ich hier noch nie gesehen.«
»Ich erkunde gerade den Schwarzwald«, klärte Santi sie auf.
»Eine sehr gute Entscheidung. Der Schwarzwald ist toll! Aber das weißt du, sonst wärst du ja gar nicht erst hierhergekommen.«
Sandra schien den Schwarzwald so sehr zu lieben, dass Santi es nicht übers Herz brachte ihr zu erklären, dass er eher unplanmäßig hier gelandet war und sein Bild vom Schwarzwald sich nicht mit ihrem zu decken schien. Aber wenn Sandra, die hier lebte, vom Schwarzwald so verzückt war, dann konnte er sich von ihr ja inspirieren lassen.
»Was genau liebst du denn am Schwarzwald?«, fragte Santi deshalb.
»Na das ist meine Heimat! Und ich bin so gerne hier…im Sommer ist er warm und man kann die Natur erkunden und aktiv sein. Und im Winter liegt hier immer Schnee, die Landschaft wird wunderbar weiß und überall sausen die Menschen auf Brettern über den Schnee. Und hast du schon mal richtig eingeatmet?«, fragte Sandra und sog dabei tief Luft ein.
»Wir haben so gute Luft! In Städten riecht es nie richtig gut und für die Gesundheit ist es auch nichts. Aber hier bei uns kann man richtig frei atmen. Wenn man etwas riecht, dann sind es die Tannen.«
Sandra sah aus, als könnte sie noch Stunden über die Vorzüge des Schwarzwaldes weitererzählen, aber während sie von ‚hier‘ sprach, hatte Santi sich gefragt, wo er überhaupt gelandet war.
»Wo habe ich hier eigentlich Halt gemacht? Ich bin einfach drauf losgeflogen und weiß es deshalb gar nicht so recht.«
»Aha«, erwiderte Sandra. Einen Moment wartete Santi, dass sie weitersprach aber als das nicht passierte, fragte er nach.
»Was ‚aha‘?«
»Nichts weiter.«
Santi verstand nicht, was Sandra meinte.
»Wie bitte? Ich wollte doch wissen, wo wir hier sind.«
»Habe ich doch auch gesagt: Aha. Der Ort hier heißt so.«
»Der Ort hier heißt ‚Aha‘?«
Sandra nickte.
Nun verstand Santi es. Der Name war aber auch ungewöhnlich und in einem Satz konnte er auch leicht missverstanden werden. Er musste ein wenig über das missratene Gespräch lachen.
»Und der See?«, fragte Santi weiter und hoffte, dass er den Namen diesmal auf Anhieb verstand.
»Das ist der Schluchsee, der größte See im Schwarzwald.«
»Schluchsee? Davon habe ich, glaube ich, gelesen. Gibt es nicht auch einen Ort, der so heißt?«
»Zwei sogar«, antwortete Sandra auf Santis Frage. Dabei hatte sie ein leichtes Grinsen auf den Lippen.
»Was ist daran so lustig?«, wollte Santi deshalb wissen.
»Nichts weiter. Das eine Dorf ist nur etwas schwerer zu erreichen als das andere.«
Sandra lachte leicht. Es schien ihr einen großen Spaß zu bereiten, Santi so auf die Folter zu spannen. Doch irgendwann schien sie ein Einsehen zu haben und erklärte:
»Also schau. Hier sind wir quasi in Schluchsee, Aha ist ein Ortsteil davon. Und das andere Dorf Schluchsee siehst du da.«
Dabei zeigte sie geradewegs auf den See. Santi versuchte am gegenüberliegenden Ufer ein Dorf zu erkenne, aber er sah nur Bäume.
»Siehst du es?«, fragte Sandra belustigt.
Santi schüttelte den Kopf.
»Nicht wirklich.«
Sandra lachte, dann klärte sie Santi auf:
»Kannst du auch gar nicht. Das Dorf liegt nämlich unter Wasser.«
Als Santi bewusst wurde, dass er also nichts sehen können würde, drehte er sich zu Sandra um und fragte:
»Und wie kommt das?«
»Der Schluchsee ist ein Stausee«, begann Sandra ihre Erklärung. »Und als am Ende des Tals die Staumauer errichtet wurde, musste das Dorf zwangsläufig umziehen, weil das ursprüngliche Dorf genau an der Stelle des heutigen Stausees lag. Aber von dessen Häusern, Straßen und Wegen ist heute nichts mehr zu sehen, sie wurden geflutet. Lediglich die alte Dorfkirche taucht hin und wieder auf, nämlich wenn der Wasserspiegel leicht abgesenkt wird. Dann kann man die Spitze des Kirchturms aus dem Wasser ragen sehen.«
»Aber wenn da ein Dorf lag, warum wurde der See dann überhaupt angestaut? Die Bewohner konnten sich doch nicht gefreut haben, dass sie ihr Zuhause verlassen mussten?«
Sandra zuckte mit den Schultern.
»Wahrscheinlich nicht. Aber das war in den 30er Jahren und weit vor meiner Zeit. Aber gemacht hat man es wohl, um die Wasserkraft für die Stromproduktion nutzen zu können. Durch die Stromproduktion schwank auch der Wasserspiegel, weshalb der Kirchturm hin und wieder zu sehen ist.«
»Wenn er immer mal wieder aus dem Wasser ragt, dann kann er ja gar nicht weit unterhalb der Oberfläche liegen, oder?«
»Ganz genau kann ich dir das nicht sagen. Aber es scheint zumindest kein Problem für die Boote und Wassersportler zu sein, die hier in großer Zahl über den See düsen.«
Dann hatte Sandra noch eine andere Idee zu Santis Frage.
»Aber du kannst ja fliegen. Flieg doch einfach mal über den See und schau, ob du etwas erkennen kannst. Die Chancen stehen gut, der Schluchsee ist immerhin einer der saubersten Seen Deutschlands.«
Das klang zwar nach Spaß, aber als Santi über den See blickt, kam es ihm fast unmöglich vor genau die Stelle zu finden, an der die alte Dorfkirche stand. Der See war schließlich ziemlich groß.
»Weißt du denn wo das Dorf früher lag?«
»Grob schon, ich habe die Spitze des Kirchturms auch schon gesehen.«
»Möchtest du dann nicht mit mir mitfliegen? Sonst finde ich die Stelle nie«, bat Santi.
Sandra schien durch dieses Angebot ganz aufgeregt zu sein.
»Geht das eann?«, fragte Sie ein wenig ungläubig. «Ich bin nämlich noch nie geflogen. Klar, ich kann weit springen, aber fliegen würde ich unheimlich gerne einmal.«
Santi nickte. Es war zwar anstrengender zu zweit zu fliegen, aber mit einem kleinen Eichhörnchen wie Sandra würde es schon gehen. Santi dirigierte Sandra so auf seinen Rücken, dass seine Flügel nicht behindert wurden. Dann stieß er sich kraftvoll mit beiden Beinen ab und erhob sich, mit Sandra auf seinem Rücken, in die Luft. Diese quiekte vergnügt und rief ihm die Richtung zu, in die er fliegen sollte. Als sie der Meinung war, die Stelle einigermaßen gefunden zu haben, verringerte Santi die Höhe und flog nun nur knapp über der Wasseroberfläche. Sein Blick suchte das Wasser nach einem Kirchturm ab, aber es war schwerer als gedacht.
»Was ist das?«, rief Sandra plötzlich.
Santi sah sich um, aber entdeckte nichts.
»Wo?«
»Na da unten. Findest du nicht auch, dass da irgendwas zu sehen ist?«
Sandra wies ihm die Richtung, in die er schauen musste. Und tatsächlich, irgendwas war da. Aber ob es wirklich der Kirchturm war, konnte Santi nicht mit Sicherheit sagen.
»Könnte sein«, meinte er dennoch.
»Ich glaube, wir haben das Dorf gefunden«, sagte Sandra glücklich. »Ist es nicht ein aufregendes Gefühl, zu wissen, dass ein paar Meter unter uns Häuser stehen, in denen einst Menschen gelebt haben, und Straßen verlaufen, über die sie gegangen sind?«
Als Santi sich das vorstellte wurde auch ihm bewusst, dass die Vergangenheit eines ganzen Dorfes hier unter ihnen lag.
»Sehr aufregend«, erwiderte Santi deshalb.
Einen Moment blieben sie noch über dem Dorf und über dem See, dann flogen sie zurück an das Ufer, denn die zusätzliche Anstrengung durch Sandra auf seinen Rücken war für Santi deutlich zu spüren. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten und Sandra von Santis Rücken heruntergeklettert war, bedankte sie sich überschwänglich.
»Das war so aufregend. Jetzt kann ich allen erzählen, dass ich geflogen bin. Die werden so neidisch sein. Zum Glück habe ich dich angetippt, sonst hätten wir die Suche nach dem Dorf nicht zusammen durchziehen können. Du nicht, weil du nicht gewusst hättest, dass es überhaupt existiert, und ich nicht, weil ich nicht hätte hinfliegen können.«
»Das stimmt. Wie gut, dass wir uns getroffen haben«, befand auch Santi.
Sandra lächelte ihn zustimmen an.
»Und wo geht es für dich jetzt hin?«, fragte Sandra schließlich.
»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht fliege ich einfach weiter und wenn ich etwas Interessantes sehe, dann lege ich einfach einen Stopp ein.«
»Da wirst du bestimmt nicht weit kommen. Hier gibt es so viel zu entdecken. Aber das wirst du schon sehen. Ich wünsche dir eine gute Reise, Santi«, verabschiedete sich Sandra von ihm.
»Vielen Dank, Sandra. Es hat wirklich Spaß mit dir gemacht.«
Als Santi davonflog winkte ihm Sandra hinterher, bevor sie in einem Baum verschwand und Santi seinen Blick abwendete. Weiter geht’s, dachte er. Aufgrund von Sandras Worten war er sich sicher, dass er nicht weit kommen würde, bevor das nächste Abenteuer unter ihm auftauchte.
Der Schluchsee
Die Schluchsee Talsperre
Die Schluchsee Talsperre
Die Ravennabrücke - das Viadukt der Höllentalbahn in der Ravennaschlucht
Santi bei den Todtnauer Wasserfällen
Jetzt wird es auf Santis Reise sportlich.