Kapitel 6

DAS Männlein aus Glas

So zog unter Santi erneut die Landschaft des Schwarzwaldes vorbei. Dabei überflog er Berge und Wälder, Täler und Seen und Wasserfälle. Einer dieser Wasserfälle hatte ihn besonders beeindruckt, denn er war sich sicher, dass dieser noch höher war als der, an dem er im Südschwarzwald bereits Rast gemacht hatte. Santi konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass es in Deutschland noch höhere Wasserfälle geben konnte, so groß wie diese hier waren. Während Santi so vor sich hinflog, fiel ihm nach einiger Zeit auf, wie sich unter ihm ein Tal durch den Schwarzwald zog. Dieses erstreckte sich von der Mitte des Schwarzwaldes bis hin zu dessen Rand, wo eine Stadt lag. Das Tal verfügte dabei über viele mal schmale, mal breitere Nebentäler, die entlang eines Flusses entstanden waren. Hier wollte Santi eine Pause einlegen. Deshalb peilte er zur Landung eine Wiese am Rande des Tals an. Doch weil er das Gefälle dieser Wiese falsch einschätzte und er mit zu hoher Geschwindigkeit zum Landen ansetzte, verlor er im Moment der Landung das Gleichgewicht. So kam es das Santi als kleiner blauer Ball den Hang hinabkugelte. Gebremst wurde seine rasante Abwärtsfahrt erst, als er gegen einen weichen Gegenstand knallte. Verdattert und vom Schwindel gezeichnet raffte sich Santi auf und klopfte sich Gras und Dreck vom Gefieder. 

       »Wie chunnsch du denn dohär?«, fragte plötzlich eine heitere Stimme hinter ihm. Erst dann, als er sich umdrehte, bemerkte Santi, dass der weiche Gegenstand, der ihm gebremst hatte, gar kein Gegenstand war, sondern eine Kuh. Diese lag neben ihm im Gras und kaute genüsslich vor sich hin.

       »Ich habe wohl das Gleichgewicht verloren als ich hier landen wollte.«

       »Hättsch do au yfach do abe laufe chönne. Hesch dich aba dezue entschiede do abe z rugele gell? Du bisch wohl a bizzeli dappig. Was witt du doo denn? So ä komischä Vogel wie di ha i hie no nie gsäh.«

       Verwirrt blickte Santi die Kuh an. Denn er hatte kein Wort von dem verstanden, was diese gerade zu ihm gesagt hat. 

       »Wie bitte? Kannst du das noch einmal wiederholen?«, bat Santi deshalb.

       »Verstohsch mi nit?«, erwiderte die Kuh. Aber erneut konnte sich Santi keinen Reim auf das Gesagte machen. Wie sollte dieses Gespräch denn nun weiter gehen? Offensichtlich sprachen die Kuh und er unterschiedliche Sprachen.

       »Natürlich versteht er dich nicht, Mama. Er ist doch nicht von hier«, sagte da jemand neben ihm. Dort kam ein kleines Kalb federnden Schrittes angelaufen. Sein Fell war, genau wie das seiner Mutter, mit braunen Flecken übersäht. Als es Santi erreicht hatte, lächelte es ihn an und sagte:

       »Du musst Mama entschuldigen, sie spricht gerne ihren Dialekt, um zu zeigen, dass sie von hier ist. Sie versteht dich aber auch, wenn du normal sprichst, gell Mama.«

Die Kuh schnaubte verächtlich.

       »Aba d jungä Lütt vo hütt chönntet mol a weng meh d Sprooch vo de Heimet lehre. Des cha jo nit schade.«

       Auch wenn Santi den genauen Sinn der Aussage nicht verstand, so bemerkte er doch, dass die Kuh etwas unzufrieden war. Doch das Kalb ignorierte seine Mutter einfach und wandte sich stattdessen an Santi.

       »Ich bin Clio. Und ich habe von da drüben aus gesehen, wie du den Berg runtergekugelt bist. Das sah lustig aus«, sagte Clio vergnügt.

       Santi hatte seine Abwärtsfahrt zwar nicht ganz so lustig empfunden, aber es muss schon komisch ausgesehen haben.

       »Ich bin Santi. Sag mal, Clio, was spricht denn deine Mutter für eine Sprache?«

       »Das ist eigentlich keine eigene Sprache«, klärte Clio Santi auf. »Es ist Alemannisch, ein Dialekt.«

       »Davon verstehe ich gar nichts. Ich dachte eigentlich, dass ich Deutsch ganz gut beherrsche, aber mit deiner Mutter könnte ich kein Gespräch führen.«

       »Das geht vielen so. Deshalb versuchen junge Leute hier lieber weniger Dialekt zu sprechen. Hochdeutsch bekommen wir zwar auch nicht hin, aber immerhin kann man uns verstehen.«

       »Könntest du diesen Dialekt denn auch sprechen?«, fragte Santi nach. 

       »Ich könnte es versuchen. Aber man lernt den ja nicht, sondern schnappt alles so auf. Aba i chünnt scho so schwätze dass du des nit verstohsch«, antwortete Clio lachend. »Oder hast du verstanden, was ich gesagt habe?«

       Santi schüttelte den Kopf und lachte dabei ebenfalls. 

       »Nicht besonders viel.«

       »Aber was bringt dich denn jetzt hier zu uns ins Tal? Das hat dich meine Mama übrigens auch gefragt.«

       »Kein besonderer Grund. Ich bin nur hier drüber geflogen und hab gedacht, ich lege hier einen Stopp ein.«

       »Ach dann wolltest du gar nicht bewusst zu uns ins Kinzigtal.«

       Clio schien ein wenig enttäuscht zu sein. Deshalb sagte Santi:

       »Doch, irgendwie schon. Es sah von oben sehr schön aus.«

       Das schien Clio wieder aufzumuntern. Aufgeregt sagte sie:

       »Das ist es auch. Und besonders! Weiß du nämlich, dass der Bollenhut von hier ist?«

       »Aber der Bollenhut ist doch typisch für den ganzen Schwarzwald«, fragte Santi verwirrt.

       »Eben nicht!«, antwortete Clio energisch. »Das denken nur alle. Aber eigentlich haben die anderen Gemeinden mit dem Bollenhut gar nichts am Hut.«

       Clio lachte aufgrund ihres Wortwitzes. Dann erklärte sie weiter:

       »Wenn fremde Leute an den Schwarzwald denken, dann denken sie immer gleich an den Bollenhut. Aber eigentlich stammt der nur aus drei Gemeinden hier bei uns in Tal, aus Gutach, Wolfach-Kirnbach und Hornberg-Reichenbach. Dort tragen die Einheimischen auch heute noch einen Bollenhut, wenn feierliche Anlässe sind oder traditionelle Veranstaltungen stattfinden.«

       »Ah das war mir nicht bewusst«, musste Santi zugeben. 

       Er hatte, wie alle anderen gedacht, der Bollenhut wäre eine Tradition, die der gesamte Schwarzwald gemein hatte. 

       »Und was genau bedeuten die Bollen auf dem Hut eigentlich?«, fragte Santi neugierig nach. 

       »Also der Hut ist natürlich Teil der Tracht. Und auf jedem Hut sind genau 14 Bollen. Und die sind so lange rot, wie die Frau, die den Hut trägt, ledig ist. Also von der Konfirmation bis zur Hochzeit. Nachdem die Frau dann verheiratet ist, bekommt sie einen Hut mit schwarzen Bollen.«

       »Hast du eine Ahnung, wieso gerade der Bollenhut als Symbol für den Schwarzwald steht, wo er doch gar nicht wirklich für diesen steht?«

       »Der Bollenhut ist halt etwas Besonderes und schön ist er ja auch. Und wenn die Menschen erstmal denken, dass sie etwas wissen, dann hinterfragen sie es halt auch nicht mehr.«

       Santi nickte – so war es bei ihm auch gewesen. In Zukunft wollte er sich bemühen, den Ursprung von Traditionen und ihre Bedeutung herauszufinden, bevor er sie einfach so hinnahm. Ein bisschen aus seinem schlechten Gewissen heraus, aber auch weil es ihn wirklich interessierte, fragte Santi: 

       »Gibt es noch etwas Besonderes hier im Kinzigtal, von dem du mir erzählen kannst?«

       »Hm...«, dachte Clio laut nach. 

       Einen Moment lang schien ihr nichts einzufallen, doch dann riss sie vor Aufregung die Augen weit auf. 

       »Kennst du das Märchen vom Glasmännlein?«

       Als Santi verneinte, stieg Clios Aufregung noch weiter an. 

       »Das ist ein tolles Märchen, das kann ich dir erzählen. Und gleichzeitig kann ich dir auch ein bisschen was von unserem schönen Tal zeigen.«

       An ihre Mutter gewandt, fragte Clio:

       »Mama, darf ich Santi ein bisschen das Tal zeigen?«

       Nachdem ihre Mutter zugestimmt hatte, drehte sich Clio wieder zu Santi. 

       »Dann los.« 

       In Erwartung eines spaßigen Ausflugs sprang Clio verzückt voran und Santi tapst viel zu langsam hinterher. Als Clio bemerkte, dass Santi nicht mit ihr Schritt halten konnte, drehte sie sich zu ihm um. 

       »Spring auf, Santi. Sonst brauchen wir ja ewig.« 

       Gleichzeitig deutete sie auf ihren Rücken. Darum ließ sich Santi nicht zweimal bitten, denn Reiten hatte er schon immer gemocht und sich einmal nicht selbst anstrengen zu müssen, fand er sehr verlockend. Schnell flatterte er auf Clios Rücken und schon lief diese weiter. Doch der federnde Schritt Clios, den Santi schon vorher bemerkt hatte, als sie auf ihn zugelaufen war, machte sich auf ihrem Rücken doppelt bemerkbar. Santi hielt sich deshalb an ihrem Hals fest und so ging der wilde Ritt los. 

       Während Clio mit Santi auf dem Rücken über die Wiese lief, fing sie an das Märchen zu erzählen: 

       »Das Märchen handelt von Peter Munk, der hier im Tal eine Köhlerei betrieben hat. Aber irgendwann hatte er es satt, ein armer Köhler zu sein.«

       »Was macht denn ein Köhler?«, musste Santi nachfragen. 

       »Ein Köhler stellt aus Holz Holzkohle her. Jedenfalls…Peter wollte nicht länger arm sein, sondern so viel Reichtum und Ansehen besitzen wie der Flößer Ezechiel.«

       »Und was ist ein Flößer?«, unterbrach Santi Clio erneut. 

       Diese drehte sich verärgert wegen der erneuten Unterbrechung zu ihm um. Dennoch antwortete sie:

       »Flößer transportieren traditionell Baumstämme oder Schnitt- und Scheitholz über Wasserstraßen. So konnte das Holz schwimmend von einem Ort zum anderen gebracht werden. Flößer war hier seit dem Mittelalter ein angesehener Beruf, wie auch die Köhlerei, und auch heute wird die Tradition in Vereinen aufrechterhalten.«

       Um ihre Erklärung zu untermalen, lief Clio mit Santi auf dem Rücken hinunter zum Ufer des Flusses, der durch das Tal floss. 

       »Das hier ist die Kinzig. Sie hat dem Kinzigtal seinen Namen gegeben und war eben auch wichtig für die Flößerei. Über die Kinzig konnte das Holz dorthin gebracht werden, wo es gebraucht wurde.«

       »Ah, verstehe. Danke für die Erklärung«, bedankte sich Santi. 

       »Hast du noch irgendwelche Fragen? Sonst würde ich gerne die Geschichte erzählen«, fragte Clio leicht schnippisch. Entschuldigend hob Santi die Flügel.

       »Nein, nein. Bitte mach weiter.« 

       Clio räusperte sich leicht und setzte dann wieder zum Erzählen der Geschichte an, doch dann sagte sie: 

       »Entschuldigung, ich wollte dich nicht anmeckern. Ist ja ganz logisch, dass du nicht weißt, was all das ist. Für mich ist es aber halt etwas ganz Normales.«

       »Schon gut«, winkte Santi ab. 

       Glücklich darüber, dass Santi ihr nichts nachtrug, fuhr Clio mit dem Märchen fort. 

       »Also wo war ich. Ach ja, Peter wollte so reich sein wie Ezechiel«, fasste sie den Anfang noch einmal zusammen.

       »Und er war überzeugt davon, dass, wenn er erst einmal so reich wie Ezechiel war, sein Glück vollkommen sein würde. Zu der Zeit ging die Sage vom Glasmännlein, dem sogenannten Schatzhauser, um, das schon so manchen reich gemacht haben sollte. Auf der Suche nach dem Glasmännlein zog Peter dann in den Wald und dort fand er es auch tatsächlich.«

       Passend zum Märchen kamen Clio und Santi am Rande eines Waldes an. Santi war sich sicher, dass Clio ihre Route an den Verlauf der Geschichte angepasst hatte, damit der Eindruck des Märchens verstärkt wurde. Während sie im kühlen Schatten der Bäume durch den Wald gingen, fuhr Clio fort:

       »Der Schatzhauser versprach Peter dann, ihm drei Wünsche zu erfüllen. Die einzige Bedingung war, dass die Wünsche nicht töricht sein sollten. Aber Peter hatte nichts anderes im Kopf als Reichtum und so wünschte er sich vom Glasmännlein eine große Menge Geld. Zwar bekam er, was er sich gewünscht hatte, aber der Schatzhauser war wütend auf Peter, denn das Wichtigste – den Verstand zum Geld – hatte dieser nicht.

       So kam es, dass Peter Munk zwar kurzzeitig ein reicher Mann war, aber schon bald hatte er all sein Geld verspielt und stand vor dem Ruin. In diesem Moment erinnerte sich Peter an den ungeheuren Flößer Holländer Michel, der ihm schon öfters seine Dienste angeboten hatte. Peter entschied sich nun einen Handel mit ihm einzugehen. Peter würde ein Leben lang Ansehen und so viel Geld wie er wollte haben, aber dafür forderte der Holländer Michel sein lebendig schlagendes Herz als Gegenleistung ein. Schließlich willigte Peter ein, denn sein warmes Herz hatte ihn schon einige Male ins Unheil gestürzt. Stattdessen erhielt Peter ein steinernes Herz.«

       Clio und Santi traten wieder aus dem Wald hinaus und befanden sich nun am Rande eines kleinen Dorfs mit alten Fachwerkhäusern und Höfen.

       »In der Folge des Tauschs fehlte es Peter Munk an nichts mehr«, erzählte Clio weiter, während sie an den Häusern vorbeigingen. »Er heiratete sogar das schönste und lieblichste Mädchen der Gegend. Aber richtig lieben konnte er sie nicht und auch freuen konnte er sich nicht mehr. Es kam so weit, dass Peter seine eigene Mutter verstieß, die in Armut lebte, und am Ende erschlug er sogar seine Frau und das nur, weil die einem alten armen Mann zu essen gegeben hatte. 

       Obwohl er mit seinem steinernen Herzen wenig empfinden konnte, packte Peter doch so etwas wie Reue. Deshalb suchte er erneut das Glasmännlein auf. Dieses war der alte Mann gewesen, dem seine nun tote Frau zu essen gegeben hatte. Und aufgrund ihrer Gutherzigkeit erklärte sich das Glasmännlein bereit, Peter zu helfen. Durch eine List erhielt Peter sein warmes Herz wieder zurück. Und seine Freude und Emotionen machten sogar seine Frau wieder lebendig. So lebte Peter Munk noch eine lange Zeit ein glückliches Leben – zwar als bescheidener, aber angesehener Köhler.«

       Santi hatte gebannt Clios Erzählung gelauscht und durch ihren Streifzug durch das Kinzigtal, hatte er sich geradezu in das Märchen hineingedacht. 

       »Wow, Clio. Vielen Dank«, sagte er ernsthaft. »Das hat mir wirklich gut gefallen. Woher kennst du das Märchen denn so genau?«

       Nicht ohne Stolz erwiderte Clio: 

       »Na das hat Mama mir immer erzählt, als ich noch kleiner war. Und das ist dann einfach hängen geblieben. Ich mag solche Sagen und Märchen aber auch. Und weil dieses hier, wo ich zuhause bin, spielt, mag ich es besonders. Aber der ganze Schwarzwald ist voll von solchen Erzählungen.«

       »Mal sehen, ob mir auf meiner weiteren Reise noch welche begegnen«, sagte Santi und hoffte es ausdrücklich. Normalerweise hatten Märchen für ihn immer einen unwirklichen und verstaubten Eindruck gemacht. Aber wenn man deren Schauplatz so erleben konnte wie hier, dann begeisterten sie auch ihn. Gerne hätte Santi einmal das Tal so erlebt, wie es damals war.

       »Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe zu erleben, wie die Menschen damals gelebt haben«, sagte Santi deshalb seufzend. 

       »Gibt es doch«, klärte Clio ihn auf. »Den Vogtsbauernhof.«

       »Wie kann man denn auf einem Hof die Vergangenheit erleben?«, wollte Santi wissen.

       »Na das ist nicht nur irgendein Hof, sondern ein Freilichtmuseum, in dem man erleben kann, wie hier im Schwarzwald über die letzten Jahrhunderte gelebt wurde.« 

       Santis Neugier war geweckt. 

       »Ist das weit weg von hier?« 

       »Gar nicht«, antwortete Clio. »Du musst einfach der Kinzig ein Stück folgen und wenn die Gutach dann rechts abfließt, dann musst du da entlang weiterfliegen. Dann kommst du direkt nach Gutach und dort ist dann auch der Vogtsbauernhof.«

       »Ich glaube das schau ich mir mal an«, stellte Santi fest. 

       »Solltest du«, stimmte Clio Santis Plan zu. 

       »Vielen Dank, Clio. Danke, dass du mir das Märchen erzählt hast und mir dein Tal gezeigt hast. Und natürlich für den Tipp.«

       »Mir hat es auch Spaß gemacht«, erwiderte Clio mit einem Lächeln.

       Nachdem die beiden sich verabschiedet hatten, trottete Clio zurück zu ihrer Mutter auf die Weide. Santi blickte ihre einen kurzen Moment nach, bevor er in die Luft stieg und zum Wasser hinunterflog, das ihn nun zu seinem nächsten Stopp führen würde. 

Die Triberger Wasserfälle

Das Flößerdenkmal in Wolfach

Schiltach im Kinzigtal

Schiltach

Das Rathaus in Schiltach

Folge Santi und der Kinzig: