Kapitel 2
Wo bin ich?
Am nächsten Morgen stand Santi mit dem Gefühl auf vor einem großen Abenteuer zu stehen – weniger, weil er den Schwarzwald erkunden wollte, sondern vielmehr, weil er von seiner geplanten Reise abwich. Nachdem Santi am vorigen Abend den Sonnenuntergang beobachtet hatte, hatte er noch lange in seinem neuen Reiseführer über den Schwarzwald gelesen und sich so einen Plan gemacht, wohin er fliegen wollte.
Da Santi nun in Freiburg war, schien es ihm nur richtig, mit Freiburgs Hausberg zu beginnen – dem Schauinsland. Von diesem Berg erhoffte sich Santi auch einen Blick über die umliegende Landschaft, denn auch wenn er bei seinem Flug bis nach Freiburg zwar alles aus der Luft hätte sehen können, so nahm er doch nur wenig wahr, weil er immer in Bewegung war und sich auch auf seinen Flug konzentrieren musste. Wenn aber ein Berg Schau-ins-Land hieß, dann erwartete Santi, dass dieser Name auch Programm war. Deshalb stieß sich Santi mit aller Kraft von dem Ast ab, auf dem er sein Nachtlager aufgeschlagen hatte, und breitete die Flügel aus. Diese waren morgens immer ein bisschen steif, aber nach ein paar Flügelschlägen hatte er die gewünschte Kraft und Geschwindigkeit erreicht und flog über die Straßen Freiburgs hinweg, vorbei am Turm des Münsters und immer weiter, bis er die Stadt hinter sich ließ. Die Farben unter Santi wandelten sich von einem grau zu einem grün – ein Zeichen dafür, dass die Häuser weniger und die Bäume und Wiesen mehr wurden. Eine Weile lieferte sich Santi ein Rennen mit einer unter ihm fahrenden Straßenbahn, doch auch sie ließ er hinter sich, während er seinem Ziel entgegenflog. Unter Santi vermehrten sich nun zusehends die dunkelgrünen Tannen und zwischen diesen bahnte sich eine gewundene Straße ihren Weg den Berg hinauf. Ihr folgte Santi.
Plötzlich meinte Santi unter sich wieder Schienen zu erkennen. Waren das wieder die der Freiburger Straßenbahn und er irgendwie wieder in der Stadt gelandet? Eigentlich unmöglich, war sich Santi sicher, aber es interessierte ihn doch, was das für Schienen waren. Deshalb verringerte er seine Flughöhe und stürzte hinab, um sich die diese aus der Nähe anzusehen. Doch unglücklicherweise schätzte er sein Tempo und seine Höhe falsch ein und raste in Form eines waghalsigen Sturzflugs Richtung Boden. Gerade noch rechtzeitig flachte er seine Flugkurve ab und flog entlang der Schienen. Bis Santi sich allerdings orientiert hatte und die Flügel zum Bremsen aufstellte, legte er noch einige Meter zurück und dabei rutschte er hinein in ein dunkles Loch. Santi, der die Dunkelheit nicht gerade schätzte, stemmte die Füße in den Boden und verlangsamte so immer weiter, bis er schließlich zum Stehen kam. Nachdem seine Augen einen Moment brauchten, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, konnte Santi schließlich seine Umgebung zumindest schemenhaft erkennen.
Um ihn herum befand sich Fels und Santi konnte dessen Feuchtigkeit riechen. Als Santi sich umdrehte erkannte er, dass die Öffnung, durch die er in den Schacht gelangt war, nicht weit hinter ihm lag. Doch das Licht drang nicht bis zu ihm hervor, sondern verlor sich unmittelbar hinter dem Eingang. Plötzlich hörte Santi ein Piepsen. Er drehte sich einmal um seine eigene Achse, konnte aber aufgrund der Dunkelheit nur wenig erkennen. Erneut piepste es, doch diesmal konnte Santi die Richtung, aus der es kam, ausmachen – über ihm. Santi machte einige behutsame Flügelschläge und näherte sich so der Decke des Schachts. Hier waren nun die leicht schimmernden Gitterstäbe eines kleinen Käfigs zu erkennen.
»Hallo?«, fragte Santi in die Dunkelheit hinein, denn er konnte nicht erkennen, ob der Käfig bewohnt war.
»Hallo?«, kam es zögerlich aus dem Käfig zurück.
Santi hatte sich also doch nicht getäuscht, da war jemand im Käfig.
»Es tut mir leid, ich kann dich in der Dunkelheit leider nicht erkennen. Gibt es hier vielleicht Licht?«, fragte Santi, denn er wollte seinen Gegenüber gerne auch sehen können.
»Richtig Licht gibt es hier nicht, aber ich glaube gestern hat ein Kind seine Stirnlampe fallen gelassen. Die müsste hier irgendwo auf dem Boden liegen.«
Eine Stirnlampe? Damit konnte Santi nichts anfangen, doch er hörte auf seinen Gegenüber im Käfig und sank zurück auf den Boden, den er mit seinen Füßen und Flügeln absuchte. Nach ein paar Minuten hatte er etwas gefunden und diesmal war es kein Stein, wie die etliche Male zuvor, als Santi schon dachte, er wäre fündig geworden. Diesmal ertastete er einen Knopf an einer Seite der Stirnlampe und drückte ihn. Tatsächlich erhellte nun ein Lichtkegel den Schacht und Santi erkannte, was er da in den Flügeln hielt.
»Du musst sie aufsetzen«, wies ihn die Stimme über ihm an.
Und so nahm Santi das Gummiband, an dem die Lampe befestigt war und zog sie sich über den Kopf. So konnte er nun all das erkennen, was vor ihm lag. Schnell flog Santi wieder nach oben und richtete seinen Blick auf den Käfig. Auf einer kleinen Stange in der Mitte des Käfigs saß ein kleiner gelber Kanarienvogel. Der schien von Santis Lampe stark geblendet, denn er schirmte seine Augen mit einem Flügel gegen das direkte Licht ab. Schnell justierte Santi die Lampe, sodass sie nicht mehr direkt auf den Kanarienvogel gerichtet war.
»Hallo, ich bin Santi«, stellte er sich nun, wo er seinen Gegenüber auch sehen konnte, vor.
»Hallo«, erwiderte auch der Kanarienvogel. »Ich bin Simon. Was bringt denn dich hierher?«
Santi, der noch immer in der Luft vor dem Käfig flatterte, antwortete auf Simons Frage:
»Ich bin eher aus Versehen hier hereingeflogen. Eigentlich war ich auf dem Weg auf den Schauinsland.«
Simon piepste vergnügt, für Santi klang es fast wie ein Lachen.
»Na dann hast du dein Ziel ja irgendwie doch erreicht.«
»Wie meinst du das? Ich dachte der Schauinsland wäre ein Berg?«
Simon nickte.
»Das ist auch so. Aber anstatt AUF den Berg zu gelangen, bist du nun gewissermaßen IN ihm gelandet.«
»Ich bin also IM Schauinsland?«, fragte Santi verwundert.
»So ist es. Das hier ist das alte Bergwerk. Heute wird hier zwar nichts mehr abgebaut, aber die Gruben und Stollen sind noch immer für Besucher geöffnet.«
Santi sah den dunklen Gang entlang, der weiter in den Berg hineinführte. Wie lange er wohl fliegen musste, bis er an seinem Ende ankommen würde?
»Und was machen die Besucher dann hier?«, erkundigte Santi sich.
»Na sie besichtigen den Stollen und lernen etwas über den Bergbau, der hier betrieben wurde.«
»Ich verstehe«, meinte Santi. »Und erfahren sie das alles von dir?«
Wieder piepste Simon vergnügt.
»Aber nein. Dafür gibt es Führer, die die Gruppen durch das Grubengebäude begleiten.«
»Und was ist dann deine Aufgabe hier?«, wollte Santi von Simon wissen.
Denn wenn dieser nicht dazu hier war, die Informationen an die Besucher weiterzugeben, warum hing sein Käfig dann hier?
»Heute ist es wohl eher für die Touristen. Ein Kanarienvogel in einem Bergwerk ist wohl das, was sie erwarten.«
»Also hast du hier gar keine richtige Aufgabe?«
Simon schüttelte den Kopf.
»Nicht wirklich. Aber früher waren Kanarienvögel sehr wichtig für den Bergbau.«
Simons Stimme war der Stolz anzuhören, den er aufgrund der Geschichte seiner Art empfand.
»Damals haben uns nämlich die Mienenarbeiter ihr Leben anvertraut, schließlich bestand immer die Gefahr, dass Gase die Gesundheit der Arbeiter bedrohten, insbesondere weil die Frischluftversorgung ständig gefährdet war. Und da hat man uns mit zur Arbeit genommen, weil wir sehr sensibel auf die Gase reagieren und sie schnell wahrnehmen. Wenn wir dann aufgehört haben zu singen, weil die Gaskonzentration in der Luft zu hoch war, dann wussten die Arbeiter, dass sie schnellstmöglich den Stollen verlassen mussten. Wir waren also richtige Lebensretter!«
»Sehr beeindruckend«, bemerkte Santi. »Aber wenn sie dich gar nicht mehr brauchen, warum sitzt du dann hier in deinem Käfig in der Dunkelheit?«
»So dunkel ist es hier gar nicht, von draußen kommt ja doch noch etwas Licht herein. Und außerdem gewöhnen sich die Augen ziemlich gut an die Dunkelheit. Ich habe dich zum Beispiel schon gesehen, also du noch wild blinzelnd versucht hast, mich in meinem Käfig auszumachen – trotz meiner Farbe.«
Wieder piepste Simon. Santi wusste mittlerweile, dass dies ein Zeichen dafür war, dass Simon sich köstlich amüsierte. Nachdem er kurz piepste, antwortete Simon auch auf die zweite von Santis Fragen:
»Hier bin ich, weil es mir gefällt. Es macht mir Spaß zu beobachten, wie die Besucher im Berg verschwinden, manche von ihnen zögerlich, wegen der Dunkelheit und Enge. Wenn sie aber zurückkommen, dann sind sie doch immer beeindruckt und froh, dass sie sich überwunden haben. Gehen könnte ich jederzeit. Hier, siehst du?«
Parallel zu seinen Worten trat Simon mit einem Fuß gegen die Tür des Käfigs, die widerstandlos aufschwang.
»Aber ich will gar nicht weg. Hier gibt es immer was zu gucken und gefüttert werde ich auch. Zwar nicht offiziell, aber eine der Führerinnen bringt mir immer etwas zu essen vorbei.«
Simon schien tatsächlich zufrieden zu sein. Das konnte Santi zwar nicht verstehen, aber warum sollte er mit Simon diskutieren. Wenn dieser es vorzog hier in seinem Käfig zu sitzen, dann brauchte Santi gar nicht erst versuchen, ihn von den Vorzügen des Reisens und der Freiheit des Fliegens zu überzeugen. Deshalb richtete Santi sein Interesse lieber wieder auf das Bergwerk. Bevor er Simon allerdings seine Fragen stellte, flatterte Santi zu dem nun offenen Türchen des Käfigs – dieses Fliegen auf der Stelle war ihm auf Dauer doch zu anstrengend.
»Wenn du hier dein Leben verbringst, dann weißt du doch sicher, wie lang dieser Gang ist und was hier abgebaut wurde.«
»Natürlich! Silber gab es hier in rauen Mengen. Durch den Silberbergbau war Freiburg im Mittelalter auch so reich und durch den Wohlstand konnte zum Beispiel der Bau des Münsters finanziert werden. Wie lange der Gang hier genau ist kann ich dir leider nicht sagen, aber das gesamte Grubengebäude, das auf 22 Etagen – oder wie es richtig heißt: Sohlen – verteilt ist, hat eine Länge von ca. 100 Kilometern. Ist das nicht der Wahnsinn? Alles in einem einzigen Berg.«
Das war tatsächlich beeindruckend, fand Santi. Seine Neugier war geweckt.
»Meinst du, ich kann noch ein bisschen durch den Berg fliegen und mir alles anschauen? Eine Lampe habe ich jetzt ja schon.«
»Allein würde ich das nicht machen. Schließlich willst du ja auch wieder herauskommen. Aber wenn du noch einen Moment wartest, dann kommt bestimmt gleich eine Gruppe, mit der du mitfliegen kannst«, empfahl Simon.
Und so wartete Santi, doch er musste wirklich nicht lange warten. Über den Köpfen der Gruppe flatterte Santi durch die Gänge, fühlte das kalte und feuchte Gestein und lauschte den Erzählungen des Führers. So lernte er allerhand über den Bergbau und dessen typische Perioden. Doch als sich die Führung dem Ende neigte, war es Santi ganz recht. Er vermisste das Tageslicht und die frische Luft. Auf dem Weg nach draußen verabschiedete er sich noch schnell von Simon:
»Es war schön dich kennenzulernen. Bist du dir sicher, dass du nicht doch lieber mit mir auf den Berg kommen möchtest?«
Santi hatte sich die Frage nicht verkneifen können, denn er konnte Simon noch immer nicht verstehen. Doch dieser schüttelte entschieden den Kopf.
»Ganz sicher!«
Wenig später flog Santi erneut hinweg über grüne Tannen und Wiesen. Nun wollte er endlich die Aussicht erleben, die er erwartet hatte. Vor ihm tauchte nun aus dem Nichts die Gondel einer Seilbahn auf. Schnell wich Santi ihr aus, doch dann kam ihm ein Gedanke: Gondeln fahren immer zum Gipfel! Deshalb flog Santi einen Looping und jagte dann so schnell er konnte der gelben Kabine nach. Als er sie eingeholte hatte, ließ er sich auf deren Dach nieder und atmete nach seinem rasanten Flug erst einmal tief durch. Da er nun nicht mehr selbst fliegen konnte, hatte er mehr Zeit sich die Landschaft anzuschauen. Blickte man entlang der Wipfel der Tannen den Berg hinunter ins Tal, so konnte man beobachten wie der dunkle Tannenwald in grüne Wiesen überging und dahinter das Grau der Stadt sichtbar wurde. Das schöne Wetter an diesem Tag erlaubte es, dass man dahinter am Horizont die nächste Gebirgskette sehen konnte. Und blickte man sich um, so bot die Seilbahn einen Blick über die umliegenden Schwarzwaldberge. Während die Seilbahn immer weiter nach oben glitt, genoss Santi diesen Ausblick. Viel besser konnte der von ganz oben auch nicht mehr werden, dachte er. So eine Schönheit hatte Santi dem Schwarzwald gar nicht zugetraut. Wenn er an dessen Landschaft gedacht hatte, so bestanden diese Gedanken fast nur aus dunklen Wäldern. Doch das hier war definitiv nicht dunkel und weit mehr als nur Wälder.
Mit einem leichten Ruck hielt die Gondel an der Bergstation an und Santi nutzte den Impuls und setzte seinen Flug fort. Er musst nicht mehr weit fliegen, denn vor ihm ragte schon der Aussichtsturm auf, den er in seinem Reiseführer gesehen hatte. Auf dessen Plattform ließ er sich nieder und genoss erneut den Ausblick über den Schwarzwald. Eine Informationstafel wies ihm die Richtung, in die er blicken musste, und beschrieb ihm dann, was er sah – vorausgesetzt das Wetter stimmt, so wie heute. Interessiert drehte sich Santi um sich selbst, um alles zu sehen, was es zu sehen gab. Besonders beeindruckte ihn der Blick zum Horizont, hin zu dem Gebirge, das er zuvor nicht hatte zuordnen können. Denn was sich da am Horizont hinter dem Rheintal und den Vogesen erhob, war nichts Geringeres als die Schweizer Alpen. Dass er diese von hier aus sehen konnte, hätte Santi nie gedacht.
Santi war froh, dass er sich auf diese Reise begeben hatte, denn das, was er bereits vom Schwarzwald gesehen hatte, mache ihn neugierig darauf, was dieser noch alles bereithielt. Zwar war sich Santi noch nicht sicher, ob er hier die Action und den Spaß finden würde, den er suchte, aber zumindest konnte er etwas Neues kennenlernen – und danach immer noch weiter ziehen in die lebendigen Städte.
Auf dem Schauinsland
Eine Gondel der Schauinslandbahn auf dem Weg nach oben
Die Bergstation der Schauinslandbahn
Vor dem Museumsbergwerk Schauinsland
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