Kapitel 4

Wenn Menschen fliegen lernen

Tatsächlich war Santi nicht lange unterwegs, als unter ihm etwas auftauchte, das er noch nicht gesehen hatte und auch nicht einordnen konnte. Vor ihm lag ein Hang, aber dieser war nicht wie seine Umgebung mit Bäumen überzogen. Stattdessen lag ein grünes Band auf dem Hügel, dass sich nach oben hin verengte. An der Spitze des Bandes stand ein Turm, von dem eine gigantische Rutschbahn nach unten führte. Beim genauen Hinsehen bemerkte Santi, dass das gleiche daneben noch einmal zu sehen war, nur etwas kleiner. Santi wollte unbedingt wissen, was er da sah. Deshalb landete er auf der Wiese am Fuße des Hangs. Erst als er dasaß und nach oben blickte wurde ihm bewusst, wie hoch diese Anlage wirklich war. Und als er so nach oben blickte, wurden seine Augen plötzlich ganz weit. War das ein Mensch? Ganz oben auf dem Turm meinte Santi eine Gestalt ausmachen zu können. Santi war sich nun sicher, dass ihn seine Augen nicht täuschten. Um einen genaueren Blick auf das Geschehen werfen zu können, stieg Santi in die Luft und flog ein Stück auf den Turm zu. Dort schnallte sich ein Mann mit Helm gerade zwei lange Skier unter die Füße und rutschte dann über einen Holzbalken in die Mitte der Bahn. Dann verlagerte er sein Gleichgewicht nach vorne und fuhr auf den Skiern die Bahn hinunter. Am Ende der Bahn streckte er seine Beine durch und sprang so ab. Was dann kam, hätte sich Santi nicht einmal vorstellen können. Der Mann flog durch die Luft und den Hang hinunter, wo er sicher landete und schließlich zum Stehen kam. Fliegen an sich war für Santi offensichtlich nichts Außergewöhnliches, schließlich gehörte es zu seinem Alltag. Aber Menschen konnten nun einmal nicht fliegen, außer mit Flugzeugen oder sonstigen Hilfsmitteln. Der Mann eben war aber ganz von selbst geflogen, getragen nur durch die Luft unter seinem Körper.

       ‚Skispringen‘ schoss es Santi plötzlich durch den Kopf. Irgendwo hatte er der Begriff einmal aufgeschnappt und das, was er eben gesehen hatte, musste diese Sportart sein. Bis auf den Namen wusste Santi nicht viel darüber, denn in Brasilien gab es kein Skispringen. Aber nach dem zu urteilen, was er gesehen hatte, handelte es sich um eine anspruchsvolle Sportart, die auch gefährlich zu sein schien. Denn nur zu gut wusste Santi, wie schnell man das Gleichgewicht in der Luft verlieren konnte und wenn man dann keine Flügel hatte, die den Fall abbremsen und den Körper wieder ausrichten konnten, dann konnte das ganz schön ins Auge gehen. So wie auch er daheim mit seinen Eltern das Fliegen in kleinen Schritten gelernt hatte, mussten also auch die Menschen das Skispringen üben. Santi was sich sicher, dass die kleinere Anlage nebenan dazu diente.

       »Hey du!«, krächzte es plötzlich neben Santi. Dort stand ein schwarzer Rabe in der Luft, der Santi tadelnd ansah.

       »Du kannst hier nicht einfach in der Luft rumstehen, das ist gefährlich – für dich und für die Springer.«

       Erschrocken entschuldigte sich Santi:

       »Das war mir nicht bewusst, Entschuldigung. Aber kannst du mir nicht ein bisschen mehr über die Anlage hier erzählen?«

       Santi mochte es nicht, Ärger zu bekommen. Und schon gar nicht von dem Raben, denn der schien sehr streng zu sein. Entsprechend skeptisch sah der Rabe ihn an.

       »Aber nicht hier«, antwortete er bestimmt.

       Mit diesen Worten flog der Rabe los zu einem Turm neben der Anlage, auf dem er sich nieder lies. Santi folgte ihm.

       »Du bist wohl nicht von hier, was?«, fragte der Rabe, nachdem Santi neben ihm gelandet war, und fügte hinzu: 

       »Ich bin übrigens Michael.«

       »Santi. Und nein, ich bin nicht von hier. Ich komme aus Brasilien. Deshalb wusste ich auch leider nicht, dass ich hier nicht so einfach herumfliegen darf. Ich habe nämlich noch nie so eine Anlage wie die hier gesehen«, erklärte sich Santi.

       »Na was hast du denn für Fragen? Du musst dich aber kurzfassen, ich bin hier nämlich beschäftigt.«

       »Womit bist du denn beschäftigt?«, hakte Santi neugierig nach.

       »Ich muss dafür sorgen, dass der Luftraum hier über der Schanze frei ist und nicht solche komischen Vögel wie du da rumflattern. Die Menschen kümmern sich vielleicht um den Wind und den Anlauf und all das, aber ich habe die Verantwortung für die Tiere, die sich hier aufhalten. So schnell wie ich könnten die Menschen ja auch gar nicht eingreifen, sie können ja schließlich nicht einfach hinfliegen, wenn es etwas zu klären gibt.«

       So wie Michael von seinen Aufgaben sprach, bekam Santi den Eindruck, dass er sehr viel Verantwortung trug. Schließlich hatte er es am eigenen Leib erlebt, wie gefährlich es sein konnte, wenn man unbedacht durch die Gegend flog. Aber dennoch war sich Santi nicht sicher, wie offiziell diese Aufgaben waren oder ob Michael sie sich selbst zugeteilt hatte. Aber weil Santi ihn nicht beleidigen wollte, nickte er zustimmend und fragte weiter:

       »Du hast das hier gerade Schanze genannt. Ist das der offizielle Name?«

       »Skispringen findet immer auf einer Schanze statt, die heißen alle so. Unsere hier heißt richtig Hochfirstschanze. Und es ist die größte Naturschanze Europas«, erläuterte Michael stolz.

»Was ist eine Naturschanze? Gibt es auch künstliche?«

»Bei einer Naturschanze wurde weder der Anlaufbereich – also da, wo die Springer losfahren – noch der Aufsprungbereich – also da wo die Springer landen – durch Baumaßnahmen ergänzt. Eine Naturschanze wird ausschließlich durch ihre natürliche Umgebung gebildet, deshalb passt sie sich auch so gut an die umliegende Natur an. Andere Schanzen werden einfach auf den Berg draufgesetzt und wirken deshalb wie Fremdkörper. Unsere aber nicht.«

Michael war der Stolz über seine Aufgaben und die Schanze deutlich anzumerken. Irgendwie schön, wenn jemand so für das schwärmt, was er tat, dachte Santi. Ein bisschen beneidete er Michael sogar. Überhaupt fiel Santi auf, wie sehr die Bewohner des Schwarzwaldes, die er bisher kennengelernt hatte, ihre Heimat liebten und von ihr schwärmten. Vielleicht war das Leben hier doch nicht so einseitig und langweilig, wie Santi immer gedacht hatte.

       »Sie passt sich wirklich toll an den Berg an«, musste auch Santi zugeben. »Finden hier auch Wettbewerbe statt?«

       Michael nickte.

       »Natürlich. Wir sind regelmäßig Austragungsort für internationale Wettbewerbe. Im Winter versteht sich, schließlich ist Skispringen eine Wintersportart. Aber auch im Sommer kann man Springern beim Training zusehen oder einfach die Schanze besichtigen. Deshalb sind wir hier immer beschäftigt.«

       Während er das sagte, schaute er zunächst auf seine Armbanduhr und dann an Santi vorbei zur Schanze, wo sich ein neuer Springer bereit machte. Santi verstand den dezenten Hinweis darauf, dass Michael sich jetzt gerne wieder auf seine Aufgaben konzentrieren würde. Deshalb verabschiedete er sich:

       »Vielen Dank, dass du mir so viel erzählt hast. Auf Wiedersehen, Michael.«

       Michael, der schon wieder konzentriert den Luftraum vor dem Turm beobachtete, äußerte selbst eine kurze Verabschiedung, bevor Santi weiterzog. Im Flug drehte er sich noch einmal nach der Schanze um – sie sah wirklich beeindruckend aus.

       Santi flog eine Weile ziellos durch die Gegend, doch dann erinnerte er sich an eine Schlucht, über die er gelesen hatte. Deshalb änderte er seine Flugrichtung und flog dann weiter Richtung Westen. In seinem Reiseführer wurde die sogenannte Wutachschlucht als der ‚größte Canyon Deutschlands‘ beschrieben – den wollte sich Santi nicht entgehen lassen. Doch bis dahin musste er noch ein ganzes Stück Weg zurücklegen. Aber wie sagte man so schön: der Weg ist das Ziel. Deshalb genoss Santi seinen Flug über die Tannen, Wiesen und Bäche, die unter ihm die Landschaft bildeten. Während seines Flugs war sich Santi nicht sicher, ob er wissen würde, wann er an seinem Ziel war. Aber als sich die Schlucht schließlich unter ihm auftat, wusste er sofort, dass er sein Ziel erreicht hatte. In der Luft hielt er inne und betrachtete das, was da vor ihm lag. Unter Santi schlängelte sich ein abenteuerliches Wildflusstal mit einer ursprünglichen Landschaft aus Schluchten und Wäldern durch den Schwarzwald. Soweit Santi sehen konnte, zog sich die Schlucht und in ihr Wasserfälle, hölzerne Hängebrücken, schmale Wege im Fels und eingetretene Wege entlang des Wassers. Vereinzelt konnte Sani in der Schlucht einzelne oder Gruppen von Wanderern sehen, die durch die Schlucht gingen. Hier konnte sogar Santi den Spaß am Wandern verstehen. Stumpf auf geteerten Wegen durch die Gegend laufen, hatte er noch nie gemocht. Sich hier aber durch die Schlucht zu kämpfen, musste unglaublich aufregend sein, schließlich stellte die Natur immer wieder unterschiedliche Anforderungen an den Wanderer und es gab immer etwas Neues zu sehen und zu erleben. Keine Spur von stumpfem Laufen – hier war Wandern ein wahres Erlebnis. Fast war Santi ein bisschen traurig darüber, dass er die Schlucht nicht selbst erkunden konnte. Doch langsam wurde es dunkel und er wollte nicht riskieren über Nacht in dieser festzustecken. Deshalb flog er noch ein wenig weiter über die Schlucht und schwenkte dann ab, um sich einen Schlafplatz für die Nacht zu suchen. 

       Santi hatte heute wirklich eine Menge vom Schwarzwald gesehen und nette Bewohner kennengelernt. Egal ob er sich an seine unterirdische Tour durch den Schauinsland, seine Suche nach dem versunkenen Dorf, seine erste Begegnung mit dem Skispringen oder all den anderen Dingen, die er heute gesehen oder erlebt hatte, erinnerte, Santi musste schon jetzt zugeben, dass der Schwarzwald mehr zu bieten hatte, als er sich hatte vorstellen können. Und er war gespannt, was dieser noch bereithielt, weshalb Santi am nächsten Tag weiter nach Norden fliegen wollte.

       Nachdem Santi seinen Schlafplatz gefunden hatte, wollte er jedoch noch eine weitere Sache erleben, von der er gelesen und die ihm schon mehrfach begegnet war – ein berühmtes Tannenzäpfle. Es handelte sich dabei um ein Bier aus der Rothaus Brauerei hier aus dem Schwarzwald, die angeblich gegründet wurde, weil den Schwarzwäldern das Schnapstrinken abgewöhnt werden sollte. Santi hatte sich ein solches Bier besorgt und wollte es nun probieren, wo er nicht mehr fliegen musste. Schon das Etikett sah sehr ansprechend aus, denn auf ihm befanden sich, neben den für den Schwarzwald typischen Tannenzapfen, auch eine Frau in Tracht – ihr inoffizieller Name war Biergit Kraft, wie Santi nachgelesen hatte. Wenn man es nicht alemannisch aussprach, sollte das ‚Bier gibt Kraft‘ heißen. Und diese Kraft konnte Santi für den nächsten Tag gebrauchen, schließlich hatte er einen weiten Weg vor sich. 

Die Hochfirstschanze in Titisee-Neustadt

Die Wutach 

Brücke über die Wutach im Wutachtal

Santi mit Biergit Kraft

Das war der Südschwarzwald. Weiter geht Santis Reise im Mittleren Schwarzwald.